Süddeutsche
Zeitung, jetzt.de vom 25.1.2006
Leben - ein Mosaik aus Vergangenheit und Gegenwart
Angestrichen:
„Wir sind hier nicht in Ostberlin!“, hatte die Großmutter gesagt. „Das sind wir wirklich nicht, meine Liebe!“, hatte der Großvater gelacht. Und Anna hatte sich in ihrer Ritze die größte Mühe gegeben, schlafende Anna zu spielen. Wo und was ist Ostberlin? Wo war der Geruch nach Johanniskrautöl geblieben? Wieso hörte sich das Lachen ihres Großvaters auf einmal wie ein Bellen an? Anna presste ihre Lider so fest wie möglich zusammen, und schon fing die Verwandlung an: Von einer Sekunde auf die andere wurde es kalt im Zimmer, eiskalt und still. (...) So ruhig wie möglich atmete sie aus und ein: Kein Zweifel, es roch nach Winter, nach Eis, nach Schneesturm.
Wo steht das denn:
In Katja Hubers Debütroman „Fernwärme“, dessen Titel so gut zum russischen Frost vor der Tür passt, von dem gerade alle sprechen. In der russischen Provinz, in der das Buch zum Teil spielt, ist es allerdings heiß: 35 Grad. „Für einen Astrachaner Sommer ist das noch gar nichts. Es wird noch viel heißer.“ Das sagt jedenfalls die Babuschka, die Anna und ihrer Freundin Vera im Zug von Volgograd nach Astrachan gegenübersitzt und zu ihren Hühnern spricht. Aber zurück zu Katja Hubers Roman „Fernwärme“, in dem es nicht um Temperaturen, sondern um Anziehungskraft und Unverständnis zwischen Russen und Deutschen geht. Und vor allem darum, wie sich Vergangenheit und Gegenwart immer wieder überschneiden, überlagern und vermischen und unser Leben im Hier und Heute mitbestimmen.
„Klingeln. Eins kurz, eins lang. Klingeln kann jeder. Immer. Aber nicht jeder klingelt zu jeder Uhrzeit.“ So beginnt Annas Geburtstag und so beginnt – nach einem Prolog, in dem Annas Großmutter durch Ostberlin läuft, um für sich und ihren gerade erst aus Russland und den Kriegswirren heimgekehrten Mann Medikamente, Brot und Kohlen zu organisieren – Katja Hubers „Fernwärme“. Es ist fünf nach sechs am 20. Juni 200X, als Igor an Annas Tür klingelt und ihren Geburtstag ziemlich durcheinander bringt. Denn Igor stellt sich als Annas Cousin vor, von dem sie bis zum Morgengrauen ihres Geburtstags nichts wusste.
Katja Huber, 34, die bereits Hörspiele und Kurzgeschichten geschrieben hat und als Journalistin für den Bayerischen Rundfunk arbeitet, erzählt auf den folgenden knapp 140 Seiten eine Mehrgenerationengeschichte. Allerdings keine, die bei Oma und Opa und ihren Liebes– und Lebens-Wirrungen beginnt, um dann irgendwann bei Annas Leben im Jahr 200X zu enden. Bei Katja Huber hüpfen die Perspektiven, die Zeiten und die Orte, so dass einem beim Lesen manchmal ganz schwindlig wird und man nicht genau weiß, wo man gerade ist.
Auf Igors Klingeln an Annas Tür in München folgt ein Weckerklingeln in Volgograd, wo Anna ihre schwangere Studienfreundin Vera besucht und nach Astrachan begleitet. Von der geschminkten Vera, die neben Anna im Zug nach Astrachan sitzt, geht es zurück nach München, zu Annas bester Freundin, die mit Anna die Verlobung mit ihrem Freund durchspielen will. Von dort zu Annas Großvater in Russland, der auf einem Bahnhof in Astrachan Abschied von seiner russischen Geliebten (Igors Großmutter) nimmt, weil er in die Heimat und zu seiner Frau zurück will, um dort russische Bücher zu veröffentlichen und den Menschen in der sowjetischen Besatzungszone die russische Kultur nahe zu bringen.
Schnitt – Küche München, in der Anna und Igor Tee trinken – Schnitt – Igor, der sich von Russland nach Berlin aufmacht, um Hinweise auf das Leben seines Großvaters zu finden – Schnitt - Anna und ihre Großmutter, die auf Münchenbesuch ist – Schnitt – Annas Freund Rainer kommt zum Geburtstag feiern und ist auf Igor eifersüchtig – Schnitt – Schnitt – Schnitt.
Am Ende des Buches erscheint einem das Leben als flüchtiges Mosaik, das sich aus lauter einzelnen Geschichten, Episoden und Begebenheiten zusammensetzt, aus vergangenen genauso wie aus gegenwärtigen. Und bei all den Orts- und Zeitwechseln ist insgesamt gerade mal ein Tag vergangen – Annas Geburtstag:
„»Igor?«, rufe ich, aber der antwortet nicht. »Großmutter?«, rufe ich, aber die antwortet nicht. Ich gehe in die Küche und setze mich. Woher kommt die Teetasse auf dem Tisch? Ich erinnere mich nicht.“
So endet Annas Geburtstag und so endet „Fernwärme“. Genauso rätselhaft und geheimnisvoll, wie beides begonnen hat.
caroline-vonlowtzow
Fernwärme von Katja Huber, 141 Seiten, ist im P. Kirchheim Verlag erschienen und kostet 15 Euro. Am Mittwoch, 25. Januar 2006, liest Katja Huber auf dem Hausmusik Festival in München im „Harry Klein“ und am Samstag, 18. März 2006, liest sie auf der Leipziger Buchmesse.
INTRO Nr. 134, Dez 05 - Jan 06
"Es ist wie ein Traum in der R.E.M.-Phase in den frühen Morgenstunden: An ihrem Geburtstag wird die Münchnerin Anna aus dem Schlaf geklingelt
und mit einer unwirklichen Situation konfrontiert. Denn vor der Tür steht nicht ihr Freund Rainer, nicht ihre Großmutter und auch nicht der
Pulk Freunde mit Kuchen, Bier und Blumen. Vor ihr steht Igor aus Russland mit Trockenfisch im Gepäck und behauptet, ihr Cousin zu sein.
Anna glaubt ihm erst nicht. Ihr Großvater Ludwig Speyer war doch sein ganzes Leben lang nur mit Magda zusammen gewesen, Annas Oma. Oder doch
nicht? Eine zeitgeschichtliche und emotionale Spurensuche beginnt. Dieser Auftakt in der Gegenwart ist dabei so etwas wie die äußerste, die
größte „Matrioschka“. Und so wie diese russischen, dickbauchigen Holzpüppchen immer
wieder eine weitere, kleinere Puppe zu Tage bringen, packt die studierte Slavistin
und BR-Zündfunk-Redakteurin Katja Huber in ihrem rasanten und sprachgewaltigen Debüt nach und nach immer schneller
und detaillierter Annas Familiengeschichte über drei Generationen aus.
Ganz nebenbei arbeitet sie mit einem eigenen, sehr an zwischenmenschlichen Dialogen orientierten Ton die Kulturunterschiede
zwischen Deutschen und Russen heraus und verknüpft so unterschiedliche Zeiten und Thematiken wie den Zweiten Weltkrieg, die Entstehung und den
Fall der DDR mit dem tristen Arbeitslosenalltag in der russischen Provinz und den Werten von
Freundschaft und Familie. Dabei werden „Russisch Brot“ und „russische Eier“ als
Exotismus-fördernde deutsche Strukturen entlarvt und die popkulturelle Lebensstil-Bricolage der
Münchner Endzwanziger als langweilige Uniformiertheit enttarnt. Ob Annas
Opa nun wirklich eine Affäre mit einer russischen Schauspielerin hatte,
nachdem er Ostberlin verlassen musste, weil er an seinen bolschewistischen Überzeugungen zu zweifeln begann, und ob zwei
Generationen später als Frucht dessen Igor tatsächlich existiert, bleibt
am Ende offen. Das ist aber auch nicht wichtig. Wichtig ist, dass Anna, die einige Zeit in Russland studierte und immer wieder dorthin zu
Freunden zurückkehrt, eine Antwort findet auf ihre Frage, was die „russische Seele“ ausmacht. Was sie in Volgograd und Astrachan heimisch
sein lässt und in Deutschland von ihren Freunden entfremdet. „Die beste
Aussicht auf das, was man wirklich sehen will“, hatte ihre Großmutter
einmal gesagt, „hat man von Orten, die ganz weit weg sind von dem, was
einen interessiert.“ Was wohl auch heißen mag, dass es mitunter nicht
nur den einen Ort gibt und der Ort auch ein Gefühl sein kann. Fernwärme
etwa. Damit werden eben nicht nur Heizungen betrieben, sondern auch Menschenherzen."
Kerstin Fritzsche
Die Welt ist aus den Fugen
SZ 8.9.05
"Fernwärme": Romandebüt der Dießener Autorin Katja Huber
Dießen - "Magda war seit fünf Stunden unterwegs. Schon vor vier Stunden hatte sie sich für ihr mangelndes
Organisationstalent verflucht. Viel konnte sie nicht mehr spüren, und das wenige, was sich noch in ihr regte,
erinnerte sie mit jedem Schritt daran, wie dumm sie sich doch verhielt." So beginnt der Roman "Fernwärme"
der Dießener Schriftstellerin Katja Huber, der jetzt im Peter Kirchheim Verlag erschienen ist. "Prolog", steht
über der Szene der Frau, die durch Ostberlin läuft, um für ihren kranken, gerade erst aus den Kriegswirren
heimgekehrten Mann Medikamente und für sie beide Brot und Kohlen zu organisieren. Sie kehrt zurück in
eine unvollständige Familie: Anna, die Tochter der beiden, ist nicht dabei, ist in Russland und studiert.
Ein Schnitt folgt auf diesen Prolog, ein Schnitt auf den 20. Juni 200X, auf das Klingeln um sechs Uhr fünf vor
Annas Wohnungstür. Anna hat Geburtstag, erwartet aber keine Gäste, zumindest nicht so früh. Sie schnappt
sich das erstbeste Kleidungsstück, öffnet und sieht sich einem fremden Mann gegenüber, der sich zum Tee
einlädt. "Ich habe nichts dagegen, meinen Geburtstag auf eine ausgefallene Art und Weise zu begehen. Ich
erwarte sogar, daß alles irgendwie besonders ist an meinem Geburtstag. Aber um halb sieben Uhr morgens
in der dämmerigen Küche und im Regenmantel Tee kochen, für einen Fremden, dem die Morgensonne jetzt
auch noch einen Heiligenschein um sein Haupthaar zaubert?"
Die Welt ist aus den Fugen geraten, alles obliegt einer gewissen Vorläufigkeit. So wie die Menschen nach
dem unseligen Krieg sich auf Provisorien einließen, so wirken die provisorischen Lebensversuche bis in die
Gegenwart hinein. Heimat wird zum Namen für Verlorengegangenes, auch nie Besessenes. Sesshaftigkeit
scheint fragwürdig. Mit gutem Blick für spielerische Szenen, mit tänzerischer Dialogführung und großer Lust
an Sprachregie erzählt Katja Huber eine skurrile Geschichte, die zwischen Ostberlin, München und
Astrachan changiert, die hinein blendet in Alltagsszenen zwischen Tristesse und Lebenslust. Temporeich,
zwischen den Zeiten und Orten springend, braucht sie nicht einmal 150 Seiten, um diese
Mehrgenerationengeschichte auszubreiten.
Die 1971 geborene Autorin arbeitet als Rundfunkjournalistin für den Bayerischen Rundfunk und veröffentlichte
bisher Erzählungen in Anthologien. Mit "Fernwärme", ihrem Romandebüt, ist ihr ein eigener Erzählton
gelungen, eine Stimme zwischen jungenhafter Schnoddrigkeit und der Weisheit alter Märchen und
Überlieferungen. Eine wichtige Figur ist nämlich Annas Großmutter, die wie Großmütter aus Märchen wie
"Rotkäppchen" einen Bezugspunkt für die Enkelin darstellt und zur immer
gegenwärtigen Mentorin wird.
Sabine Zaplin
Amerika, Russland und Europa
TAZ 29.9.05
"Fernwärme"! Was für ein Titel für ein Buch. Unweigerlich drängt sich da doch das Bild von einer Heizung auf. Doch davon will Autorin Katja Huber selbstverständlich nicht erzählen. Sondern um den mal warmen und mal kalten Austausch zwischen den Deutschen und den Russen, und das alles auch noch zwischen zwei Generationen. Interessant ist dabei der Erzählstil von Katja Huber: Vom kleinen Kind zur jungen Frau, von Russland nach Deutschland: hin und her hüpft die Perspektive. Das ist nicht gerade neu, aber gut. Deswegen liest Frau Huber am heutigen Donnerstag im Kaffee Burger.
Prinz Okt. 2005
Bücher aus München
Katja Huber. „Fernwärme“
Als Zündfunk-Kolumnistin, Hörspiel- und Kurzgeschichtenautorin ist Katja Huber längst keine Unbekannte mehr. In ihrem ersten Roman wechselt sie nun spielend leicht zwischen verschiedenen Erzählebenen, bereist die russische Provinz und die untergegangene DDR, beleuchtet Politik und Weltgeschehen und erzählt ganz nebenbei eine kleine fantastische Liebesgeschichte. (P. Kirchheim)
Mit der Freundin zur Datsche in Astrachan
Berliner Zeitung, "Ausflüge" vorgestellt von Katrin Schuster am 5.11.2005.
In München ist Katja Huber keine Unbekannte, da Redakteurin beim BR-Zündfunk und Autorin mehrerer Hörspiele. Mit ihrem ersten Roman "Fernwärme" wird sie ihr Einzugsgebiet wohl ausdehnen, denn "Fernwärme" wirft einen bescheiden klugen Blick auf die deutsch-deutsche Geschichte und ist eine märchenhafte und amüsant wirklichkeitsgetreue Fabuliererei über Verständigung - und zwar nicht nur die deutsch-deutsche.
Es beginnt an Annas 32. Geburtstag: Morgens um fünf nach sechs klingelt es an ihrer Tür. Als Anna im schnell übergeworfenen Regenmantel öffnet, steht ein Kerl vor der Tür und behauptet ihr Cousin aus Russland zu sein. Theoretisch möglich: Annas Opa verbrachte neun Jahre in Russland. Dass ihn dort mehr band als "die Partei", ahnt Anna längst: Ihr Großvater war stets der einzige, der ihre Ost-Melancholie noch verstand, wenn alle anderen sie bereits der Kitsch-Rhetorik zeihten. Anna selbst verbrachte sechs Monate in Wolgograd und kehrt immer wieder dorthin zurück. Etwa als Freundin Vera, schwanger und mit Mann, auf die Datscha nach Astrachan zieht. Dort werden erst einmal Melonen geerntet.
Katja Huber dreht ihr kunterbunt funkelndes Familienszenen-Kaleidoskop ganz vorsichtig, und ähnlich behutsam behandelt sie auch die Sprache: nichts dröhnt, kein Paukenschlag ist nötig, damit der Leser Hubers verzweigten Pfaden folgt. Dabei verwundert kaum, freut aber umso mehr, dass der hörfunkerfahrenen Huber gerade das oft unterschätzte Dialogische so schön knapp und verschroben von der Hand geht. So schmal, so gut, das ist "Fernwärme".
Conny Gellrich schreibt in der
«Jungen Welt» über Wahrnehmungen an Katja Hubers Sprache:
"...Sie verwendet ihr Wortwerkzeug auf eigenwillig einnehmende Art zum Erzeugen von klaren und präzisen, kleinen Stimmungen. So
wird Anna von der besten Freundin links und rechts eine runtergeküßt, während ein Lächeln über Vollbusen und Spitzhüfte rutscht, sich in einem
Netzstrumpf verhakt und nur wegen einem Fußabstreifer aus Plüsch nicht am
Boden zerschellt. ..." Das Thema des spielerischen Geschlechtertauschs mit
seinen Untiefen verliert die Rezensentin allerdings darüber.
Das dreißigste Jahr.
Klagenfurter Neurosen: Der Bachmann-Wettbewerb
Der dreißigste Bachmann-Wettbewerb war drei Tage lang der verheißungsvollste
und in seiner letzten Stunde der enttäuschendste und neurotischste seit
Jahren. … Wie gehen Menschen um mit der Zeit, die bleibt: Das war eine der
dringlichen Fragen, die mehrere Texte stellten, doch glücklicherweise
niemals endgültig zu beantworten versuchten. Ein ehemaliger Lehrer mit
wenig Hoffnung auf eine Spenderniere sucht in Gestalt eines Untermieters
einen Gefährten; eine alte Russin verweigert sich im Friedhofsgespräch mit
den großen Toten der Tatsache, dass ihr Sohn in Afghanistan gefallen ist
[zu Katja Huber] …
Frankfurter Allgemeine Zeitung Felicitas von Lovenberg
Favoriten-Sterben.
Klagenfurt 2006: Nur beim Hauptpreis überzeugte die Jury
Klagenfurt 2006 war ein sehr starker Jahrgang. Selten hatte der Wettbewerb
so viele Texte zu bieten, die eine Auseinandersetzung lohnten. … Denn
diesmal spielten substantielle Themen eine wesentliche Rolle, wurden Fenster
in Wirklichkeiten aufgestoßen, die auch dann interessant waren, wenn sie
zum literarischen Kunstwerk nicht immer werden wollten. Das
desillusionierende Selbstmanagement in der Arbeitslosigkeit stand bei
Claudia Klischat auf der Agenda, der Afghanistankrieg der Sowjetunion bei
Katja Huber. Von den flackernden Welten intellektueller Neonazis erzählte
Kevin Vennemann, …
Süddeutsche Zeitung Ijoma Mangold
Lost Weekend: Auf der Suche nach dem guten Gefühl
VON KATJA HUBER
Katja Huber stellt sich donnerstags die Frage, was sie eigentlich am letzten Wochenende gemacht hat. Denn das nächste kommt bestimmt. Und dafür sollte man vorbereitet sein, wenn die Suche nach dem guten Gefühl wieder von neuem beginnt.
Diesmal: Lost in Klagenfurt
Samstag Morgen. Obwohl mein erster klarer Gedanke "Durchfall statt Durchbruch" ist, lautet mein Tagesmotto noch "Zuversicht". Ich lasse mir doch von einem Publikum, das auch am dritten Tage des Klagenfurter Wettlesens nach einer literarischen Sensation giert, von neun berüchtigten Juroren, perfekt funktionierenden Kameras und komplett destruktiven Karmas nicht den Tag versauen.
Dass der bisher heißeste Tag des Jahres ein besonderer ist, merke ich erneut um kurz vor neun, als vor der Tür zum ORF-Theater Sonne auf Gänsehaut auf Monschein trifft. Es ist nicht die Sonne, die mich zum Schwitzen bringt. Es ist die Gans in mir, die mir fröstelnd zuflüstert, dass man sie da drinnen gleich unter Umständen ernst, auf jeden Fall aber aus- und auseinander nimmt. Es ist Frau Monschein, die Organisatorin der Literaturtage, die mich jetzt in den Saal führt. Über Monitore wird dem Publikum ein Portrait von Katja Huber präsentiert. "Lost Weekend - auf der Suche nach dem verlorenen Gefühl" sagt die Off-Stimme, "das heißt aber 'nach dem GUTEN Gefühl'", denke ich, und überlege, ob das "verloren" nicht ein ganz eindeutiges ganz negatives Zeichen ist. Aber im Gegensatz zur Russin Sofija, von der mein Text handeln wird, bin ich ja Gott sei dank fast nicht abergläubisch, und so setzte ich mich auch ohne drei mal zu klopfen an das mir zugeteilte Stück Holz, der Moderator flüstert mir irgendwas auf Russisch zu, aber das Rauschen in meinen Ohren ist viel zu laut, ich verstehe nichts, und so lächele und nicke ich nur dümmlich und - fange an, vorzulesen.
Ich lese. Ich lese und lese und lese, und vielleicht ist es die Konzentration, die einzig den Text und nichts anderes ernst nimmt, vielleicht ist es meine Stimme, die endlich souverän klingt, vielleicht ist mein Gefiedergen auch gerade schlagartig umgewandelt worden - in ein Raubtiergen: Zwischen den Wörtern, den Zeilen, dem Verschnaufpausen, kann ich die Gans aus meinem Körper treten und in die Holzkiste unter mir springen sehen. Ich bin eine Leselöwin, ich blicke vom Text auf, ich erinnere mich an den Rat einer Freundin "Suche dir Sympathie-Inseln im Publikum, für die allein du liest!"
Ich blicke in die Kamera und spüre, dass die Welt voller Sympathie-Satelliten ist, die mir zusehen und zuhören: Von Salzburg aus, von Wien, von München und Berlin, von Peißenberg, von Nürnberg, vom Ammersee, von Prag - kann man in Prag eigentlich 3sat empfangen?, frage ich mich nicht wirklich, denn so unkompliziert ist mein Text auch wieder nicht und Anteil nehmen kann man auch ohne Fernseher.
Ich lese und lese und lese und lese irgendwann den letzten Satz, und da unten in der Holzkiste vegetiert die Gans, und hier oben leuchtet die ihr längst Herr gewordene Herrin, sitze ich. Ich lächle. Und die Dame zu meiner Linken versteht mich. "Der Text versucht in einem märchenhaften Ton eine Versuchsanordnung nachzustellen, die Tote wieder lebendig machen soll.", sagt sie, und genau, es ist die Literatur, die Tote lebendig machen kann, denke ich, und vergesse vollständig, dass es die Literaturkritik ist, die Lebendige tot machen kann.
Doch Pech gehabt: im Verlauf der nächsten halben Stunde erinnert mich die Literaturkritik genau daran. Ich höre "unsinnliche Sprache", ich höre "Kolportage", ich höre "Folklore" und "Stilblüten". Eigentlich wäre es jetzt an der Zeit, aufzustehen und ein bißchen zwischen den Holzkisten zu weinen und zu wüten. Da ich mich aber auf die Spielregeln eingelassen habe, und da ich jetzt schon vermute, dass ich in wenigen Stunden oder Tagen etwas mit der Kritik anfangen kann, strecke ich meine Zunge nicht heraus, werfe kein Wasserglas, sondern höre mir ausnahmslos alles ohne ausfällig zu werden an.
Und es kann schon sein, dass die gerade noch so lustige Leseslöwin jetzt sehr sehr müde und auch ein bißchen traurig ist. Doch sie weiß schon jetzt, dass sie eine Löwin bleibt, und die Gans bis auf weiteres in ihrer Klagenfurter Holzkiste eingesperrt ist.
Den Nachmittag werde ich auf jeden Fall damit verbringen, mir den Bleisatz von der Wörtherseele zu schwimmen, all die Klagen furt zu diskutieren und noch mindestens weitere hundert Stilblüten zu produzieren, denn schließlich geht es weiter, und auch von meinem Klagenfurter Lost Weekend will ich profitieren.
Bayrischer Rundfunk, 29.6.06