Trotz der überragenden Bedeutung des italienischen Lyrikers und der
zunehmenden Zahl von Dissertationen zu Einzelaspekten, Aufsätzen und
vergleichenden Studien ist dies die erste deutsche Monographie, die sich
umfassend mit der Poetik Ungarettis und seinen philosophischen Grundlagen
befaßt.
Die Autorin verfolgt die Entwicklung von
Ungarettis Zeitbegriff von den frühen Prosaschriften bis zu den Innozenza e
memoria genannten Aufsätzen 1926, mit denen die Dialektik von `Unschuld´ und
`Gedächtnis´ ins Zentrum von Ungarettis Schaffen rückt. Im Vergleich mit
Leopardis `durata´ und Bergsons `durée pure´ entwickelt sie im ersten Kapitel
die Vorstellung vom Dichtungsakt als zeitübergreifendem, lebendigem Augenblick
und konkretisiert sie am Beispiel des Lesens und des Hörens von Musik.
Für Ungaretti ist das Gedicht Ort und
Mo(nu)ment des dynamischen Ineinanderwirkens von Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft. Dieses Erleben scheint ihm – im Gegensatz zu Dadaisten und
Surrealisten – nicht in einer Verleugnung, sondern nur im Durchgang durch ein
gesteigertes, luzides Bewußtsein möglich zu sein. Durch die Anlage vielfältiger
Deutungsmöglichkeiten soll der verwirrte Leser in eine Art geistiger Umnachtung
geführt werden, aus deren Dunkel die Erfahrung einer traumhaften Wirklichkeit
aufsteigt.
In ihren akribischen Interpretationen von
Gedichten der Allegria, des Sentimento del Tempo und der Terra Promessa sowie
der Selbstkommentierungen Ungarettis macht Angelika Baader die darin enthaltenen
Metaphern, Bilder und Symbole deutlich, die den Vorgang des dialektischen
Umschlagens von `Gedächtnis´ und `Unschuld´ und das Heraufziehen einer
`lyrischen Morgenröte´ repräsentieren.
Angelika Baader lehrt an der Universität
Heidelberg Übersetzung literarischer Texte aus dem Italienischen und hält
Seminare zu Methoden und Praxis der Literaturwissenschaft, zu Foscolo und zu
Ungaretti. Sie ist Mitherausgeberin und Übersetzerin der
Ungaretti-Gesamtausgabe (bis jetzt erschienen Band 1-4).
Giuseppe Ungaretti (1888-1970) gilt als einer
der bedeutendsten modernen italienischen Lyriker. Sein erster Gedichtband, Il
Porto Sepolto, dessen Erscheinen während des Ersten Weltkriegs (1916) nicht nur
in Italien Aufsehen erregte, hat wesentlich zur Erneuerung der italienischen
Lyrik beigetragen. Zahlreiche Übersetzungen von Ungarettis Gedichten dehnten
seinen Einfluß über den italienischen Sprachraum hinaus aus; daß zu seinen Übersetzern
auch Ingeborg Bachmann und Paul Celan gehörten, läßt die Bedeutung Ungarettis
für die Dichtung der Moderne erahnen.
Zeit und Gedächtnis in den Texten vor 1927
Zeit- und Gedächtniskonzeption bei Petrarca
und Leopardi
Bergsons »durée pure«
Musikalische Interferenzen poetischer Sprache
Interferenzen der Sprachbewegung
›Innere‹ und ›äußere‹ Antithese des
Gedächtnisses
Grundelemente der Dichtung
Zur Beschreibung der poetischen »miraggio«
Das Meer als Gegenbild der Wüste
Die ›Sprachlandschaft‹ der Allegria
Die ›Sprachlandschaft‹ im Wechsel der
›lyrischen Jahreszeiten‹
Die Anthropomorphisierung der Poesie: das
Gedicht als sich selbst generierender Körper
»La realtà dei sensi«. Die Vermischung von
physischer und intelligibler Wirklichkeit im »senso semplice« der Canzone
Variazioni su nulla: Das
Gedicht als »Stundenglas«