Viele Autorinnen und Autoren haben sich mit München auseinander gesetzt. In
unserer Sommerserie stellen wir täglich ein Buch vor, in dem der Stadt ein
literarisches Denkmal gesetzt wird.
Es ist Mitte Februar und sonnig am Strand von Venice. Eine Muskelfrau in Rosa
hopst auf einem Trampolin. Ein kleiner weißer Mann lässt sich auf einer
Holzbank von einem großen Schwarzen massieren. Das Meer! Ja, das Meer ist blau
und ruhig, mit zarten, weißen Kronen. Aber der Pazifik ist, wie immer, kalt.
„Gehen wir ein paar Meter nach innen“, sagt eine zierliche Frau Mitte Fünfzig
in ihrem schönen, alten Deutsch: „Da sieht man die Kanäle.“
München, Anfang der fünfziger Jahre, vieles ist kaputt. Ein kleines Mädchen
kommt mit seinen Eltern aus Freising in die Stadt: „Das Auto lässt der Papa
in der Dachauer Straße stehen und zuerst müssen wir alle in die Verwaltung von
der Wohnsiedlung und das Büro vom Fräulein Nothaft gehen, damit uns der Papa
vorstellen kann. Das ist vorne im Parterre in der Dachauerstraße gegenüber der
Straßenbahnhaltestelle von der Linie 1.“
Seit dreißig Jahren lebt Laura Waco in Los Angeles. Jetzt wohnt sie in einem
Bungalow zwischen Beverly Hills und Hollywood. Eine gute Mittelstandsgegend,
zwei erwachsene Töchter, ein Strafverteidiger als Mann. „Was mir hier
fehlt“, sagt Laura Waco, „sind die Laubbäume.“
Einige stehen im Hof der Borstei, jener Siedlung im Norden Münchens, die in
Wacos Roman „Von Zuhause wird nichts erzählt“ eine Hauptrolle spielt. 1924
bis 1928 wurde sie gebaut. Das liest man auf einer farbigen Wandmalerei über
einem der Innenhöfe. Arbeiter stehen da. Ein blonder junger Mann hält den Gebäudeplan
hoch. Dem gibt ein süßlicher Christus seinen Segen. Man war sittlich hier: Fräulein
Lucy, die einzige Amerikanerin in Buch und Borstei, lässt die Höschen im Winde
flattern. Das sehen die anderen Frauen ungern. Noch heute steht auf
Vormerkformularen, die in der Borstei-Verwaltung einen Stapel bilden:
„Frau/Verlobte“.
„Wieder durch einen Torbogen gehen wir, ein bisschen bergab und hier gefällt
es mir am besten. Das Fräulein Nothaft behauptet, dass dieser Hof der
friedlichste ist, der Hengelerhof (...) Der Goldfischteich ist da mit
geschlossenen Teerosen.“ Die Borstei war ein konservatives Sozial-Projekt,
gegen das Neue Bauen in Frankfurt gedacht. Daher die Torbögen, die Statuen, die
dem Architekten und Ehren-Senator Bernhard von Borst gefielen. Alles ist noch
da: ein prächtiger Zwölfender, daneben Brunnen-Nymphen und schon wieder so ein
wildschweinartiges Tier. Natur war groß geschrieben, schöner Wohnen zu kleinen
Preisen, nach einem strengen Konzept: keine Balkone, kein privater
Erholungsraum, dafür die Höfe mit viel Grün. „Waschmaschinen sind nicht
erlaubt. Dafür gibt es eine Wäscherei.“
Gemeinschaft sollte entstehen, das klappte offenbar nicht schlecht. Gerade für
die Stögers. Bernhard von Borst nahm viele Juden auf: „Der Bubi Gelber ist
steckerldürr und hat Sommersprossen und rabenschwarze grade Haare. Wir gehen
oft von der Schule zusammen nach Hause und der Majk Wiener von der Voitastr.10.
kommt auch mit.“
Der Roman ist wie ein Tagebuch geschrieben, ohne Datierung. Er hält sich an
das, an was sich die Erwachsene Laura Waco erinnert, und gibt es aus der
Perspektive des Kindes Laura wieder. Eine Kunstsprache entsteht, ein
erstaunliches Buch, ein Zeitdokument, das die Fünfziger Jahre auf eigene Weise
sieht: Hier wird in Deutschland über der Tür die Mesusah angebracht, hier
werden Hanukkah-Kerzen angezündet: jüdischer Alltag schon in den
Nachkriegsjahren, im noch ein bisserl faschistischen Deutschland? Man wusste ja
nicht, ob der Herr dort drüben eben noch in Dachau geprügelt hatte? Oder mehr.
Die berühmte Kontinuität.
Die Eltern Stöger, beide waren im KZ gewesen, haben große Mühe damit. Sie
wollen sich anpassen, aber nicht klein beigeben. Max Stöger, der früher Majr
Steger hieß, hatte seine Frau in einem DP-Lager kennen gelernt. Sie war aus
einer der besten Familien eines polnischen Städtchens. Man hatte eine Kutsche
gehabt, schöne Kleider, jetzt hatte man anfangs nichts mehr. Doch das
Restaurant in Freising lief gut, und die Borstei war Anfang der Fünfziger Jahre
fast schon Luxus: „Neben der Küche ist das Badezimmer mit einer großen, weißen
Badewanne auf der linken Seite, einem Klo beim Fenster, noch einem zusätzlichen
ganz niedrigen Klo ohne Deckel, zum Windelnwaschen und Füßewaschen, sagt die
Mutti.“ Ein Bidet!Mit Laura wächst das Bewusstsein der Erzählerin. Im Keller
der Borstei darf sie, noch ohne, den Busen der Hilde berühren. Das kostet
zwanzig Pfennig. Das Mädchen kommt in die Schule an der Leipziger Straße,
findet deutsche Freunde, die Eltern mögen sie nicht. Laura verliebt sich in den
Lehrer Ludewig, bis sich zeigt, wie viel Verständnis er für Herrn Hitler hat:
„Vor ein paar Jahren erst ist Ludewig“, sagt Laura Waco in den milden Wind
von Venice, „an Kehlkopfkrebs gestorben. Das hab’ ich zufällig gehört.“
„Neben dem Getränkeladen ist das Postamt mit einem ganz großen Fenster.
Daneben im Milchladen stinkt es gewaltig nach Käse.“ Es hat von außen schon
etwas für sich. Das Leben mit den kleinen Läden innerhalb der Siedlung, dieser
Eindruck friedlicher Autarkie. „Der letzte Laden vor dem Torbogen ist ein großes
Lebensmittelgeschäft.“ Anfang September 2001 steht er leer. Ali Abdullah hat
sein Feinkostgeschäft aufgegeben. Aber sonst: eine Friseuse, ein Café, in dem
sich der erste Münchener Lindenstraßenfanclub trifft, eine Pilskneipe, eine Bäckerei,
ein Schuhmacher, eine Schneiderei, auch die kleine Post gibt es immer noch, geöffnet
von 15 Uhr an.
Aber wie kam es eigentlich zu diesem Buch? Nach fünfzig Jahren, auf Deutsch
in Kalifornien? „Ich wollte es immer schreiben“, sagt Laura Waco. „Und die
Kindheitserinnerungen sind eben deutsch. Aber zuerst waren meine eigenen Kinder
zu jung. Und dann war es hier verpönt, etwas Positives mit Deutschland zu
verbinden.“ Das Buch ist „positiv“ wie „negativ“, beschreibend, ohne
jede Ideologie.
Laura Stöger ist als Teenager ausgewandert und von Verwandten als Ehefrau an
Howard Waco vermittelt worden. Das Buch war ein Erfolg. Michael Verhoeven
verfilmt es gerade. Und jetzt schwimmt, am Strand von Venice, immerhin ein Hund.
SZ
Hans Peter Kunisch 12.9.2001