Cheheltan - Teheran Revolutionsstrasse Cheheltan, Amir Hassan

Teheran Revolutionsstraße

Welt-Erstveröffentlichung
Aus dem Persischen von 
Susanne Baghestani
208 Seiten, gebunden
Euro 22,00 [D] Euro 22,60 [A] SFr 37,90
(ISBN) 978-3-87410-111-0

Leseprobe  Biografie  Termine  Pressestimmen

2. Auflage

Der Aufstieg eines zwielichtigen Operateurs von Jungfernhäutchen zum Klinikchef, der sich in eine seiner Patientinnen verliebt, ist Ausgangspunkt für ein Sittenbild der iranischen Gesellschaft, deren politische, wirtschaftliche und soziale Zwänge und Verwerfungen ein junges Liebespaar auf grausame Weise scheitern lassen. „Teheran Revolutionsstrasse“, der in Teheran nicht veröffentlichte Roman Cheheltans, porträtiert den unbekannten Alltag von Menschen der Teheraner Megacity.

Leseprobe:

Was Fattah auch immer tat, er konnte nicht einschlafen. Ständig rollte er sich von der einen auf die andere Seite und blickte aus den Augenwinkeln zum Fenster, auf die Ecke, an der der Vorhang beiseite geschoben und der Himmel sichtbar war. Der Morgen wollte nicht kommen. Zuvor hatte er zwar schon ein, zwei Gläschen Wodka gekippt, die aber nicht gewirkt hatten. Sie hatten ihn lediglich schwindlig gemacht, das war’s!
Das Mädchen erschien für einen Augenblick und verschwand wieder, es betrachtete ihn, und seinen Lippen entwich eine Art bläulicher Dunst. Sie war kein Mädchen, sondern Balsam fürs Herz, mit jenen schwarzen Augen, die er im Rückspiegel gesehen hatte; insbesondere, wenn der Wagen über die Schlaglöcher fuhr, und sie vor Schmerz die Brauen verzog und sich auf die Unterlippe biss, wobei ihr alles Blut, das in ihrem Körper kreiste, in die Wangen zu steigen schien. In dieser späten Herbstnacht empfand er nach all den Jahren, in denen er die Mädchen auf das Bett seiner Klinik verfrachtet und ihre Jungfernhäutchen vernäht hatte, plötzlich eine gewisse Reue und Scham, dass er mit den Händen zwischen die Schenkel dieses einen Mädchens gefahren war, und das war ein neues Gefühl. Viele Jahre war das seine Arbeit gewesen; er spreizte die Schenkel der Mädchen auf dem schmalen Bett, stülpte mit zwei Fingern die Schamlippen um, fügte die Ränder des zarten Gewebes zusammen und vernähte ihre verlorene Jungfräulichkeit. Es war ihm jedoch nie passiert, dass er sich in eine von ihnen verguckt hätte. In dieser Nacht besuchte er nicht einmal Ssahar in ihrem Appartement. Er hatte keine Lust, sondern wälzte stattdessen verworrene Gedanken. Immer wieder stand er auf und rauchte in der Dunkelheit eine Zigarette, starrte in die finsteren Winkel des Zimmers und sah nur sie, die jedes Mal, wenn sich ihre Blicke trafen, mit unschuldiger Keuschheit den Kopf neigte, die Lider senkte und sich an der Wand von ihm entfernte, als tadele sie Fattah für das, was er ihr angetan hatte.
Er hatte Maschallah nicht mehr aufgesucht, als sei nicht die Sängerin diejenige, die er suchte, und als seien all die langen Jahre der Sehnsucht nur aus dem einen Grund verstrichen, damit er sich eines Tages, kurz vor seinem Vierzigsten, derjenigen, die ihr so sehr ähnelte, das heißt in Wahrheit ihrer Jugend ähnelte, bemächtigen könnte. Er hatte viele Frauen und Mädchen gehabt, aber keine von ihnen hatte ihn mit nur einem Blick, einem Seufzer, einem verschämten Lächeln oder etwas Ähnlichem derart überwältigen können. Je mehr Zeit in den vergangenen Tagen verstrichen war, desto stärker empfand er diese Überwältigung.
Und dann fiel ihm eine ähnliche Empfindung ein, eine ferne Erinnerung, vermutlich, weil sie monatelang dieselbe Ungeduld hervorgerufen hatte, nur ein einziges Mal, und jetzt, nach so vielen Jahren, von neuem?
Er ging aufs Gymnasium, und sie war die Nachbarstochter, lernte auf dem Flachdach für die Schule, setzte sich auf die steinerne Dachwalze und lehnte sich an die Lehmmauer des Dachzugangs. Der Tschador fiel ihr auf die Schultern. Das Haar schwarz und seiden; wenn sie darüber strich, sprühte es Funken und schillerte in außergewöhnlichen Regenbogenfarben. Wenn sie lächelte, blitzte die regelmäßige Reihe ihrer blanken Zähne durch den Spalt ihrer hellroten Lippen auf. Ihre hellen Fußknöchel bewegten sich langsam, mit Gummilatschen, die an ihren Füßen klebten, in einer gleichmäßigen Kreisbewegung. Der Fünfzehnjährige hatte Mühe zu schlucken, der Atem stockte ihm in der Brust und sein Herz hämmerte ungestüm. Er betrachtete sie von der Veranda seines Hauses aus.
Das Mädchen hob manchmal den Kopf von seinem Buch, ein verschwommenes Lächeln, ein vager Blick, es strich sich übers Haar und blickte dann wieder auf das Buch. Die Elektrizität hing noch Augenblicke in der Luft. Wenn die Schmetterlinge auf sie zu flogen, schloss sie die Augen, hob den Kopf und wendete sich der Sonne zu. Ein Falter setzte sich auf ihr Augenlid und flog wenig später, nachdem er sich an der Süße gelabt hatte, die aus ihren Poren drang, davon und der Sonne entgegen. Es war Ende Frühling, die Bäume hingen voller Kirschen. Das Mädchen streckte die Hand vom Dach aus, ergriff mit den Fingern ein Blatt und zog den Zweig zu sich heran. Das Blatt riss ab, der Zweig schnellte zurück, Staub wirbelte auf, das Mädchen nieste, ein Duft von Mandarinen und eine feuchte Brise breiteten sich aus.
Fattah kletterte von der Veranda aufs Dach. Er stieg über eine niedrige Mauer, die die beiden Dächer voneinander trennte. In der Hand trug er einen langen Holzstecken. Als das Mädchen ihn erblickte, erhob es sich. Dabei geriet die Luft in Bewegung und wieder jener Duft von Mandarinen und die feuchte Brise.
Fattah verankerte den Stecken im Kirschzweig und zog ihn heran. Der Zweig senkte sich auf den Stampflehm des Dachs. Das Mädchen pflückte eilig die Kirschen und schüttete sie in einen Zipfel ihres Tschadors. Fattah ließ den Zweig los. Eine Frau trat aus dem Dunkel eines Zimmers ans Fenster, »Mahroch … Mahroch!«
Mahroch biss sich auf die Lippe und spähte von der Dachkante hinab. Die Frau am Fenster fragte, »Was war das für ein Geräusch?« Mahroch sagte, »Nichts, Mama! Es war die Katze.«
Dann setzten sich die beiden in den Schutz des Dachzugangs. Fattah lehnte sich an die Ziegelmauer. Mahroch streckte die Hand aus und strich ihm eine Strähne aus der Stirn. Sie lächelte. Sie hob die Kirschen einzeln auf, entstielte sie und schob sie zwischen ihre Lippen. Einen Augenblick wendete sie sie zwischen den Lippen, dann sog sie sie ein und zerdrückte sie mit den Zähnen. Der Saft der Kirschen sickerte durch ihre Lippen, und tröpfelte, während ihre Kiefer langsam mahlten, in ihre Mundwinkel. Tiefrote Lippen! Ihre Augenlider hoben sich, ihr Blick blitzte, gesättigt von der Süße der Kirschen, und eine Glückseligkeit wogte wie ein seltenes Gefühl im ungeduldigen Herzen des Jünglings. Sie streckte die Hand aus und nahm eine weitere Kirsche.
Fattah starrte sie mit halboffenem Mund an, blinzelte unvermittelt und atmete hastig; er bekam wohl keine Luft mehr.
Plötzlich wurde die Hoftür laut zugeschlagen. Mahroch sprang auf. Sie streckte die Hand warnend in die Höhe. Dann das Geräusch von schlurfenden Schritten auf den Kacheln des Innenhofs! Mahroch sagte, »O weh, mein großer Bruder!« Sie hatte sich erschreckt. Ihre Brüste zeichneten sich verschwommen auf ihrem dünnen Kleid aus Seidenbatist ab, und ihre Poren verströmten einen merkwürdigen Duft. Dann legte sie Fattah beide Hände auf die Schultern, »Geh, geh nach Hause. Pass auf, dass dich keiner sieht!«

Leseprobe  Biografie  Termine  Pressestimmen

Biografie

Amir Hassan Cheheltan, *1956 Teheran, 1976 erster Erzählband, „Ehefrau auf Zeit“, 1979 Durchbruch als Schriftsteller mit „Am stummen Fenster“. Er beendet sein technisches Studium in England. Wehrdienst, Irakkrieg (1980-88). Während des Krieges erster Roman, „Die Klage um Qassem“, der jedoch erst 2002 unter strengen Auflagen erscheinen darf. 2 Jahre mit Frau und Kind als Writer in Residence in Certaldo/Italien: der Roman „Teheran, Stadt ohne Himmel“ entsteht. 2001 kehrt der Autor nach Teheran zurück: Filmskript zu „Cut! Verbotene Zone“ (2004). Sein letzter Roman „Iranische Morgenröte“ wird 2007 für den Staatlichen Buchpreis nominiert, wogegen er sich wegen der häufigen Publikationsverbote (vergeblich) verwahrt. Insgesamt wurden bisher sechs Romane und fünf Erzählbände veröffentlicht.
In Deutschland ist Cheheltan durch die scharfsichtigen und scharfzüngigen Feuilletons zur Lage im Iran bekannt (seit 2004 in der Frankfurter Allgemeinen und in der Süddeutschen Zeitung). Von 2001 bis 2004 Mitglied im Vorstand des Iranischen Schriftstellerverbands. Er lebt mit Frau und Sohn in Teheran.
Amir Hassan Cheheltan auf der website des Künstlerprogramms des DAAD

Leseprobe  Biografie  Termine  Pressestimmen

Aktuelle Termine mit Amir Hassan Cheheltan

Freitag 11. März 2011,  18:00 - 21.00 Uhr
im Bürgerzentrum Nippes, Turmstrasse 3 - 5, Köln
Kontakt: info@unitedforiran.de 

A. H. Cheheltan
liest aus seinem Roman Teheran Revolutionstrasse
Lesung in persischer Sprache!

Leseprobe  Biografie  Termine  Pressestimmen

Pressestimmen:

TAZ - 9.2.2010 Kurt Scharf
Arte.de
- Dez. 2009 Kurt Scharf
Süddeutsche Zeitung
- 18.12.09
Literaturnachrichten
- Herbst 09
Tagesspiegel - 29.10.09
Die Presse - 24.10.09
Deutschlandfunk
- 22.10.09 Stefan Weidner
Sharvand.com - Farsi translation of Weidner`s article
FAZ - 13.10.09 Stefan Weidner
Thüringische Landeszeitung - 3.10.09
Deutschlandradio Kultur - 7.9.09 Interview
3sat - 4.9.09
WDR - 23.7.09
FAZ - 12.8.09
Tageblatt Luxemburg

Süddeutsche Zeitung
   
Die Zeit


Ausschnitte aus Rezensionen zu Teheran Revolutionsstraße
Deutsch/English  

Scheinbar unbeteiligt läßt Shahrsad sich von den Ereignissen mitschleifen. Kein Aufschreien, kein Aufbegehren …Ihre ganze Kraft fließt in das starre Aushalten, das kein Morgen kennt, keine Schuld, kein Selbstwertgefühl. … Und mit dieser Charakterisierung der jungen Frau gelingt Cheheltan eine beeindruckende Reflexion der Befindlichkeit der iranischen Gesellschaft. Gefangen zwischen Tradition und Moderne, Glauben und Aberglauben und brutal unterdrückt von einem Machtapparat, der sich tief in die Gesellschaft eingegraben hat, scheint es keinen Ausweg zu geben.   
ZEIT-online

Schahrsad - apparently indifferent - is carried forth by the events. No outcry, no protesting.… All her energy ends in motionless enduring that has no tomorrow, no conscience of guilt, no sense of self esteem. … Characterising the young woman Cheheltan succeeds in reflecting the mental state of Iranian society in an impressive manner. Captivated between tradition and today, faith and superstition and brutally oppressed by a government apparatus firmly established in society, escape appears nowhere.   
ZEIT-online


Mit dieser Welterstveröffentlichung seines neuen Romans liefert uns der iranische Autor ein lebendiges, spannendes und facettenreiches Porträt des nachrevolutionären Teherans. … Vom ersten Absatz an besticht die Verbindung von genauer Beobachtung und kritischer Beschreibung mit einer Ironie, welche die Heuchelei der frommen Revolutionäre gnadenlos aufs Korn nimmt. Diese Erzählweise und die von innerer Anteilnahme geprägte, ab und zu auch humorvolle Schilderung menschlicher Einzelschicksale vor dem Hintergrund des Weltgeschehens machen die Lektüre bei aller bitteren Kritik … zu einem packenden, bedrückenden, aber auch unterhaltsamen Erlebnis.
Kurt Scharf, Literaturnachrichten

With the worldwide first edition of his last novel (in German language) the Iranian author gives us a vivid, exciting and well rounded portrait of postrevolutionary Teheran. … From the first lines on the appeal lies within the composition of exact observation and critical description together with an irony that merciless hit out at the hypocrisy of the religious revolutionaries. This method of narration and the intrinsic sympathy, some parts humorous, description of human destiny on the background of world events make the reading a gripping, depressing but although entertaining experience – with all biting criticism behind.
Kurt Scharf, Literaturnachrichten

Es ist eine Literatur jenseits ideologischer Festlegungen und programmatischer Absichten; sie versucht der Welt, die sie schildern will, aus ihrer eigenen Logik heraus gerecht zu werden, und rückt ihr dabei so nah, dass sie wie eine unsichtbare Folie kaum noch von ihr zu unterscheiden ist. Dem Leser aber erscheint sie als Brennglas, das Unverständlichste und Fernste wird klar. Mit keiner Figur aus Cheheltans Roman möchte man sich als Leser identifizieren, und tut es am Ende doch unweigerlich mit allen.
Stefan Weidner, DeutschlandRadio 

It is literature beyond ideological fixation and programmatic purpose; it tries to fulfil the logic of describing the world which is her subject out of herself. Hereby she comes so close to her that she is hardly to discern like an indivisible plastic film. To the reader she becomes a burning-glass, the most unintelligible and remote becomes clear. As a reader you do not want to identify with any character in the novel of Cheheltan, but in the end unresistingly you will with all.
Stefan Weidner, DeutschlandRadio


Das Buch enthält keine Zeile gegen den Islam, nicht einmal gegen die Regierung oder die Herrschaft der Mullahs. Aber es zeigt, wie ein System, das sich jeder öffentlicher oder demokratischer Kontrollmechanismen entzieht, sich aufgrund des Egoismus seiner Vollstrecker zwangsläufig aushöhlen muß. …[Teheran Revolutionsstraße] erscheint nun erstmals überhaupt auf Deutsch, in der meisterhaften Übersetzung von Susanne Baghestani, und ist Weltliteratur, bevor es überhaupt etwas anderes war.
Stefan Weidner, FAZ

The book contains not a single line against Islam, not even against the government or the rule of the mullahs. But it shows how a system resistant to any control of public or democratic mechanisms inevitably erodes by the egoism of his executors. … [Teheran Revolutionsstraße] now comes out – as first edition – in German language, masterly translated by Susanne Baghestani, and belongs to world literature before it was anything.
Stefan Weidner, FAZ



… führt den westlichen Leser in eine ihm fremde Welt, vermittelt ihm Verständnis für ein Geschehen, das niemanden von uns gleichgültig lassen kann, und überzeugt ihn … davon, dass die iranische erzählende Literatur den Anschluß an die Moderne gefunden hat … 
Kurt Scharf, Literaturnachrichten

… conducts the western reader into a strange world, makes him understand events that can’t leave nobody of us disinterested and convinces us … that Iranian prose has caught on to modern age …
Kurt Scharf, Literaturnachrichten

Leseprobe  Biografie  Termine  Pressestimmen

Roman über islamische Revolution
Die Moral der Leute
Sarkastisch und drastisch schildert Amir Hassan Cheheltan in "Teheran Revolutionsstraße" die islamische Revolution. Das Original kann aus politischen Gründen vorerst nicht erscheinen. 
VON KURT SCHARF 

Dieses Buch ist in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlich. Der Roman wurde in persischer Sprache geschrieben, aber zuerst auf Deutsch veröffentlicht; das Original kann aus politischen Gründen vorerst nicht in Iran erscheinen. Dafür ist das Buch hierzulande so erfolgreich, dass der Verleger es bereits wenige Wochen nach seinem Erscheinen in einer zweiten Auflage herausbrachte. 
Ungewöhnlich ist das Buch auch deshalb, weil der Autor das Geschehen aus der Sicht der Personen darstellt, die er kritisiert. Er versetzt sich in die Anhänger der islamischen Revolution. Dank Ironie und Sarkasmus ist "Teheran Revolutionsstraße" trotz aller Bitterkeit nicht nur packend und bedrückend, sondern auch unterhaltsam. Bezeichnend ist der Originaltitel, der wörtlich übersetzt lautet: Die Moral der Leute aus der Revolutionsstraße. 
Der Autor liefert ein lebendiges und differenziertes Porträt des nachrevolutionären Teheran. Seine Erzähltechnik ist perfekt - er führt den Leser mitten ins Geschehen: Gleich zu Beginn wohnen wir einer Operation zur Wiederherstellung eines Jungfernhäutchens bei. Ausgeführt wird sie von einem der Helden des Romans, einem Angehörigen der Teheraner Unterschicht, der als Arzt tätig wird. 
Begonnen hat er seine Laufbahn als Lieferant eines Schnapshändlers. Danach brachte er es, durch Krankenschwestern angelernt, vom Putzmann in einem Krankenhaus zum Pfleger und als eifriger Anhänger der Revolution auch ohne Medizinstudium zum Operateur, ja sogar zum Chef einer zweifelhaften, aber wirtschaftlich erfolgreichen Klinik. 
Er verliebt sich in die Patientin und will sie heiraten. Dem widersetzt sich jedoch ein anderer Revolutionär, ein Folterer, aber Vertreter einer jüngeren Generation und Altersgenosse des Mädchens. Die Männer überbieten sich gegenseitig an Skrupellosigkeit und Grausamkeit, treten dabei jedoch als gute Muslime auf. 
Die Mutter des erwähnten "Doktors" ist hingegen eine ambivalente Gestalt. Einerseits fühlt sie sich der islamischen Revolution verpflichtet, andererseits verspürt sie Mitleid mit deren Opfern. Der fromme Großvater des jüngeren Bewerbers stellt staunend fest: "Gut, dass die Leute noch einen Glauben haben, nach all dem Unheil, das man im Namen der Religion und des Buches über sie gebracht hat." Die junge Frau, um die es geht, ist in ihrer Ausgeliefertheit ein Symbol der iranischen Gesellschaft. 
Vom ersten Absatz an besticht die Verbindung von genauer Beobachtung, kritischer Beschreibung und einer Ironie, die die Heuchelei der bigotten Revolutionäre gnadenlos aufs Korn nimmt. Der Autor schildert menschliche Einzelschicksale vor dem Hintergrund globaler Politik wie der Besetzung der amerikanischen Botschaft in Teheran oder des irakisch-iranischen Krieges. 
Drastisch ist die Beschreibung Teherans mit seinem wimmelnden chaotischen Verkehr, erschütternd sind die Bilder aus dem für politische Häftlinge bestimmten Gefängnis Evin. 
Die Lektüre von "Teheran Revolutionsstraße" führt den westlichen Leser in eine ihm fremde Welt und vermittelt ihm ein besseres Verständnis des aktuellen Geschehens, das die internationale Öffentlichkeit immer noch in Atem hält. Sie überzeugt ihn, auch wenn die Übersetzung die sprachliche Eleganz des Originals nicht ganz erreicht, davon, dass die iranische erzählende Literatur den Anschluss an die Moderne gefunden hat und hinter der europäischen oder amerikanischen nicht zurücksteht.

Leseprobe  Biografie  Termine  Pressestimmen

Im schwarzen Loch von Teheran
Amir Hassan Cheheltans Roman über Liebe und Folter in Iran

Der Herbst scheint eine dreckige Angelegenheit zu sein in Teheran. Ein trockener Wind weht durch die Seiten dieses Buches und wirbelt immer wieder grauen Staub auf, den Staub, der sich seit Jahrzehnten über das Leben der Bewohner zu legen scheint wie Sedimente des Schweigens. Gleichzeitig ist das Teheran dieses Romans ein chaotisch vor sich hin quellender Moloch, vollgestopft mit viel zu vielen Menschen. Das geheime Zentrum dieses Buchs aber, der Ort, an dem alle Handlungsfäden und alle Ängste der Protagonisten zusammenlaufen, ist das Foltergefängnis von Evin, das schwarze Loch Irans, in dem während der Revolutionsjahre tausende "politischer Häftlinge" verschwanden. Immer mehr Regimegegner wurden hier zusammengepfercht, bis man das Platzproblem 1988 mittels Massenhinrichtungen löste.

Hier arbeitete damals Fattah, ein ehemaliger Krankenhauspfleger, der zum Todesengel wurde, im Auftrag der heiligen Sache folterte und "halbwüchsigen Ketzern und kommunistischen Früchtchen" Fangschüsse setzte. Noch heute, Anfang der Neunziger, trifft er sich oft mit ehemaligen Kollegen in einem Badehaus, wo sie einander sentimentalisch an ihre hehre Aufgabe, ihre Beihilfe zur Errichtung des Gottesstaates, erinnern: "Die alten Kameraden gerieten ins Schwärmen und berieten darüber, wie die Zielpersonen zu sterben hätten. Sollte man sie auf einen Hügel bringen und erschießen, oder sie an der hohen Decke einer Lagerhalle aufknüpfen, sollte man sie entführen, in einer Geheimwohnung erdrosseln und ihre Leichen in der Wüste aussetzen oder sie in einer regnerischen Nacht unter den Rädern eines Lastwagens zerquetschen?"

Amir Hassan Cheheltan hat in diesem Buch keine einzige Zeile gegen den Islam oder die iranische Regierung geschrieben. Und doch ist "Teheran Revolutionsstraße" ein Generalangriff gegen die herrschenden Verhältnisse. Cheheltan stammt aus Teheran, er kennt sich aus mit dem Regime. Er erhielt mehrfach Todesdrohungen und überlebte zwei Attentate. Als 2006 sein Roman "Iranische Morgenröte" für den Staatlichen Buchpreis nominiert wurde, legte er Protest ein. Er wollte keinen staatlichen Preis haben, solange andere Bücher von ihm zensiert oder verboten wurden. Vertreter der Islamischen Republik teilten ihm daraufhin mit, sein Protest sei unnütz, ein Autor verfüge nach der Veröffentlichung nicht mehr über sein Werk. "Teheran Revolutionsstraße" legte Cheheltan gar nicht erst den Behörden vor. Er schrieb den Roman, damit er übersetzt wird. So hat er, ohne sich beim Schreiben selbst zu zensieren, eines der radikalsten, düstersten, mutigsten Bücher über sein Heimatland geschrieben.

Fattah verdient heute viel Geld, indem er Frauen vor der Hochzeit das Jungfernhäutchen wieder vernäht. Er liebt es, sie dabei zu beschimpfen, so sagt er zur 17-jährigen Schahrsad, die zu Beginn des Buches auf seiner Bahre liegt: "Diese Huren! Ständig geben sie sich jedem Erstbesten hin und dann fällt ihnen bei der Hochzeit ein, dass sie nur noch oberhalb des Bauchnabels Mädchen sind!"

Im Inneren verkrüppelt

Schahrsad soll verheiratet werden mit Mustafa, einem jungen Mann, dessen Mutter bei der Brautwerbung erzählt, ihr Sohn sei "ein Regierungsmensch, er bringt ehrlich verdientes Geld ins Haus." Daran stimmt, dass er ein geregeltes Einkommen hat. Er bekommt es für seine Arbeit als Folterknecht. In den Verliesen von Evin. Als Fattah sich in seine Patientin verliebt und anfängt ihr nachzustellen, beginnt eine tödliche Ménage-à-trois.

Die märchenhafte Schahrasad hatte Glück seinerzeit. Sie konnte ihren Tod immer weiter hinauszögern, indem sie Geschichten erzählte, 1001 Nächte lang. Das heißt zum einen, dass sie zuvor gelernt haben muss, sich zu artikulieren. Dass sie jetzt reden durfte. Dass ihr einer zuhörte. Und das sie in all der Zeit nicht angetastet wurde. Schahrsad hingegen, ihre Namensvetterin aus Cheheltans Roman, das Objekt der doppelten Begierde, kommt kaum zu Wort. Sie braucht all ihre Kraft, um den unerträglichen Alltag auszuhalten und scheint sich selbst abhanden gekommen zu sein. Literarisch ist sie die beeindruckendste Figur, eine dunkle Leerstelle und Projektionsfläche.

Stark ist der Roman da, wo er rein aus der beschränkten Innenperspektive seiner Personen erzählt. Moralische Kategorien kommen nicht vor, Fattah und Mustafa sind innerlich verkrüppelt, ohne es freilich zu merken, sie sehen sich als loyale Diener einer Ideologie, die sich als Religion ausgibt, aber einzig auf repressivem Autoritätsglauben beruht. Fattah, der Schahrsad heiraten will, vergewaltigt sie irgendwann und sagt dabei: "Wenn du willst, näh ich es dir wieder zusammen." Er meint das zärtlich.

Leider ist Cheheltan immer wieder auch kommentierender Beobachter, was gerade bei diesen beschränkten, selbstgefälligen, angstgelähmten Charakteren einen bizarren Effekt hat, fast als würde sich in einem Spielfilm plötzlich ein CNN-Reporter ins Bild drängen und erläutern: "Sie sehen, meine Dam"n"herrn, Korruption und Angstregime einerseits, dabei außenpolitisch wenig Proteste wegen viel Öl und feigem Westen." Dennoch hat Amir Hassan Cheheltan ein beeindruckendes Tableau seines Landes gezeichnet - und dabei en passant die Vorgeschichte der aktuellen Proteste aufgezeichnet. ALEX RÜHLE

AMIR HASSAN CHEHELTAN: Teheran Revolutionsstraße. Aus dem Persischen von Susanne Baghestani. Kirchheim Verlag, München 2009. 208 Seiten, 22 Euro.

Quelle: Süddeutsche Zeitung
Nr.292, Freitag, den 18. Dezember 2009 , Seite 14

Leseprobe  Biografie  Termine  Pressestimmen

Heuchelei der Frommen

Mit dieser Welterstveröffentlichung seines neuen Romans liefert uns der iranische Autor Amir Hassan Cheheltan ein lebendiges, spannendes und facettenreiches Porträt des nachrevolutionären Teherans. Mit souveräner Erzähltechnik führt er den Leser mitten ins Geschehen hinein: Wir wohnen einer Hymenoplastik bei, durchgeführt von einem der Protagonisten. Dieser war einst Angehöriger der Teheraner Unterschicht, begann als Lieferant eines Schnapshändlers und hat es danach, angelernt von den Krankenschwestern in einem Hospital, vom Putzmann zum Pfleger und als eifriger Anhänger der Revolution auch ohne Medizinstudium zum Operateur, ja sogar zum angesehenen und wohlhabenden Chef einer Klinik gebracht. Der falsche Doktor verliebt sich in seine Patientin und beschließt, sie zu heiraten. Dem widersetzt sich indessen ein anderer, Revolutionär und Folterer auch er, aber Vertreter einer jüngeren Generation und Altersgenosse des Mädchens. Sie wetteifern miteinander an Skrupellosigkeit und Brutalität, treten dabei jedoch als fromme Muslime auf. 
Uns begegnen indessen auch andere Charaktere: die großbäuchige, dickbusige Suppenmama, deren Foto, neben ihrem Kessel aufgenommen, um die Welt geht - sie kämpft für die islamische Revolution und verspürt doch Mitleid mit deren Opfern - oder des jüngeren Bewerbers tiefgläubiger Großvater, der staunend feststellt: „Gut, dass die Leute noch einen Glauben haben, nach all dem Unheil, das man im Namen der Religion und des Buches über sie gebracht hat."

Vom ersten Absatz an besticht die Verbindung von genauer Beobachtung und kritischer Beschreibung mit einer Ironie, welche die Heuchelei der frommen Revolutionäre gnadenlos aufs Korn nimmt. Diese Erzählweise und die von innerer Anteilnahme geprägte, ab und zu auch humorvolle Schilderung menschlicher Einzelschicksale vor dem Hintergrund des Weltgeschehens - wie der Besetzung der amerikanischen Botschaft in Teheran oder des irakisch-iranischen Krieges - machen die Lektüre von Teheran Revolutionsstraße bei aller bitteren Kritik an den Zuständen und den handelnden Personen zu einem packenden, bedrückenden, aber auch unterhaltsamen Erlebnis. Umso mehr, als der Autor das Geschehen aus der Sicht der handelnden Personen, überwiegend Anhänger der islamischen Revolution, darstellt und sie so nur indirekt kritisiert. 
Im Original, das aus politischen Gründen allerdings zumindest vorerst nicht veröffentlicht werden kann, macht das schon der Titel „Die Moral der Leute aus der Revolutionsstraße" deutlich. Voller Sarkasmus sind die Beschreibungen Teherans und des darin wimmelnden chaotischen Verkehrs, erschütternd die Bilder aus dem für politische Häftlinge bestimmten Gefängnis Evin. 
Die Lektüre des Buchs führt den westlichen Leser in eine ihm fremde Welt, vermittelt ihm Verständnis für ein Geschehen, das niemanden von uns gleichgültig lassen kann, und überzeugt ihn - auch wenn die Übersetzung gelegentlich etwas holprig daher kommt - davon, dass die iranische erzählende Literatur den Anschluss an die Moderne gefunden hat und keineswegs hinter der abendländischen zurücksteht.
Kurt Scharf LiteraturNachrichten Nr. 102 Herbst 2009

Leseprobe  Biografie  Termine  Pressestimmen

Der Streit um Schahrsad
Ein couragierter, freimütiger und poetischer Roman über den Alltag in Teheran. Von Frank Quilitzsch
„Diese Huren! ... Ständig geben sie sich jedem Erstbesten hin und dann fällt ihnen bei der Hochzeit ein, dass sie nur noch oberhalb des Bauchnabels Mädchen sind!“ Mit seinen Flüchen übertönt Fattah das Wimmern der jungen Frau, die vor ihm auf dem OP-Tisch liegt. Er ist Chirurg und darauf spezialisiert, die  Jungfräulichkeit von „gefallenen“ Töchtern wieder herzustellen.
Normalerweise hat er nur Verachtung für die armen Dinger übrig, die meistens vergewaltigt wurden, doch vor ihm liegt Schahrsad, ein bildhübsches Mädchen, das ihn an seine Jugendliebe erinnert, die später Schlagersängerin wurde und die er nicht bekommen konnte. Diese hier wird er sich nehmen, kraft seiner Autorität als Klinikchef und Geheimdienstmann, er wird sie verfolgen und seinerseits zum Beischlaf zwingen und die Mutter unter Druck setzen, denn Schahrsad liebt einen anderen, den jungen Mustafa.
So beginnt der Roman „Teheran Revolutionsstraße“ des iranischen Autors Amir Hassan Cheheltan, ein wichtiges, ein manchmal schwer zu ertragendes, ein ergreifendes Buch, das helfen kann, die Verhältnisse im heutigen Iran besser zu verstehen. Cheheltan, 1956 in Teheran geboren, hat bereits elf Bücher veröffentlicht, sein erstes während des Iran-Irak-Krieges (1980-88), es durfte allerdings erst 2002 unter strengen Auflagen erscheinen. „Teheran Revolutionsstraße“ hat er der Zensurbehörde gar nicht erst vorgelegt.
Seit Juli 2009 lebt er mit einem Stipendium in Deutschland, und bis zu seiner Abreise hat er über seine letzten Tage im Iran, die von der Protestbewegung geprägt waren, Tagebuch geführt und Auszüge davon in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht.
„Teheran Revolutionsstraße“ wurde bisher in Persisch nicht veröffentlicht und ist der erste in eine andere Sprache übersetzte Roman des  Autors. Er vermittelt die jüngere Geschichte des Landes, vom Sturz des Schahs und den folgenden Massenhinrichtungen über die „Säuberung“ der islamischen Kultur von ausländischen Einflüssen bis zu den anhaltenden Studentenprotesten.
Die Handlung ist kunstvoll gestrickt; neben dem Arzt Fattah, der seiner Patientin nachstellt, werden auch die Schicksale Mustafas, der im Teheraner Evin-Gefängnis als Aufseher arbeitet, seines Vorgesetzten Keramat sowie ihrer Mütter erzählt, und wie nebenbei entsteht ein Sittengemälde des Alltags in einer der Hauptstraßen der Megastadt. Cheheltans Kunstgriff: Er vertieft sich in die Gefühlswelt der Demagogen und Folterknechte, zeigt, wie diese – neben ihrem sadistischen Tagwerk – in Liebe entflammen. Das verstört, zwingt aber zu dialektischer Betrachtung. So quält Mustafa, ehe er um Schahrsads Hand anhält, eine eingekerkerte Studentin fast zu Tode. Schahrsad, die von Mustafas Tätigkeit nichts weiß, vertraut ihm blind. Über zahlreiche Einschübe wird eine Menge über die Situation der iranischen Frauen mitgeteilt, von unterwürfigen Ehegattinnen über junge Widerständlerinnen bis zu den mystifizierten „Revolutionsmüttern“.
Cheheltan beherrscht die Klaviatur des Erzählens, wechselt zwischen bissiger Ironie und poetischer Stilisierung. Als Leser saugt man die fremde Welt mit all ihren Farben und Düften auf. Doch wo geboten, entlarvt der Erzähler seine Helden bis auf die Knochen. So lässt er Fattah sich seiner „revolutionären“ Taten brüsten: „Anfangs hatte man die Savaki und die Schah-Anhänger geschnappt, dann waren die Demokraten, Häretiker, Kommunisten und Gottlosen an der Reihe, dann die Putschisten und die amerikanischen Spione und schließlich die Wirtschaftsverbrecher.“
Gleich den Überfallkommandos der SA rollen sie durchs nächtliche Teheran, prügeln die denunzierten Bürger ins Fahrzeug, um sie im Kerker ihren Peinigern zu übergeben. Die junge, schöne Schahrsad gerät zwischen die zwei um ihre Gunst buhlenden Geheimdienstmänner, und da Fattah der Reichere und Mächtigere von beiden ist, weiß sich Mustafa nicht anders zu helfen, als seine Angebetete nach gelernter Methode zu „entführen“. Er denunziert die unschuldige Schahrsad, lässt sie abholen und ins Evin-Gefängnis bringen, wo sie vor Fattah erst einmal sicher ist. Nicht aber vor Mustafas Vorgesetztem, der die „kleine Schlampe“, die im Verhör nicht auspacken will, im Morgengrauen hinrichten lässt.

Leseprobe  Biografie  Termine  Pressestimmen

Rezension/Interview vom 23.07.2009 im WDR3 als PDF
oder zum Anhören:
http://www.wdr3.de

Iranische Literatur FAZ, 12. Aug. 2009
Unschuld und Massengrab
Von Verena Lueken Amir Hassan Cheheltan

Autonome Stimme: 
Amir Hassan Cheheltan in Berlin

13. August 2009 - Es ist sehr ruhig am Rand von Charlottenburg, wo in einem Haus zwischen hohen Bäumen seit einigen Wochen der iranische Schriftsteller Amir Hassan Cheheltan wohnt. Seine Frau Shala, sein Sohn Ashkan und er verbringen ihre Tage damit, ehrgeizig Deutsch zu lernen, herauszufinden, wie Berlin funktioniert, wohin man gehen kann, wenn man Unterhaltung sucht. Was das eigentlich ist. Wer sie besucht, will über Politik sprechen und darüber, wie es wohl weitergeht in Iran, welche Aussichten die Protestbewegung hat, jetzt, da Ahmadineschad endgültig als wiedergewählt gilt und die Prozesse gegen seine Gegner laufen. Ashkan verabschiedet sich dann, sobald die Höflichkeit es gestattet. Ungeheuer höflich sind sie alle drei.
Cheheltan hat ein Literaturstipendium des DAAD für ein Jahr, er hat mit seiner Familie Teheran am 30. Juni verlassen und kurz vor der Abreise noch ein Tagebuch des Protestes für diese Zeitung abgeschlossen (Autor Cheheltan: Meine letzten Tage in Iran). Seitdem verbringt er vier, fünf Stunden täglich damit, E-Mails aus Iran zu beantworten, achtzig bis hundert erreichen ihn jeden Tag. Er will ein Jahr in Berlin leben, vor allem auch um seiner Familie willen, aber er hält es kaum aus, nicht in Teheran zu sein. Ein Gefühl unversöhnter Hass-Liebe verbindet ihn mit der Stadt, ein Gefühl, in dem beide Pole gleich stark strahlen, so dass er unruhig wird, wenn er sich anderswo aufhält.
Porträt einer verrottenden Gesellschaft
Dabei hat er die Zeit seines Deutschlandbesuchs sorgfältig geplant. Zum ersten Mal erscheint in diesen Tagen einer seiner Romane in deutscher Übersetzung („Teheran Revolutionsstraße“. Aus dem Persischen von Susanne Baghestani. P. Kirchheim Verlag, München), es ist der achte, den er geschrieben hat, er hat Termine für Lesungen, Einladungen zu Literaturfestivals und zur Buchmesse. Der Zensurbehörde in Iran hat er das Buch, das grausam und teilweise sexuell explizit ist, gar nicht erst vorgelegt. Seit eineinhalb Jahren liegt dort aber ein weiterer Roman von ihm zur Genehmigung. Willkür herrscht, wer weiß, wann von diesem Buch wieder die Rede sein wird.
In „Teheran Revolutionsstraße“ erzählt Cheheltan in gewisser Weise die Vorgeschichte der Proteste, bei denen es ja nicht um Ideologien und Programme ging, sondern ums Leben. Darum, nicht mehr gezwungen zu werden, es vollständig zu verpassen. Aber der Roman handelt nicht von Gegnern des Systems, sondern vom Alltag verschiedener Figuren unter den Bedingungen einer verrottenden Gesellschaft. Einer Gesellschaft, in der jeder mindestens zwei Identitäten hat, kaum einer weiß, wer er eigentlich ist, aber jeder ein ungestilltes Verlangen in sich trägt – ein Verlangen nach Nähe, nach einem anderen Körper, danach, von einem anderen in seinem wahren Wesen erkannt zu werden, wogegen spricht, dass niemand ist, wer er zu sein vorgibt, jedenfalls nicht ganz und nicht immer.
Parallele Welten
„Teheran Revolutionsstraße“ beginnt mit einer Operation. Schahrsad, eine junge Frau, ist von ihrer Mutter und deren Freundin ins Krankenhaus gebracht worden, damit dort ihre Jungfräulichkeit wiederhergestellt werde. Der Arzt, Fattah, führt die nicht sehr schwierige Operation mit sadistischer Verachtung aus, aber auch in einer gewissen Erregung. Er wird sich in Schahrsad verlieben, sie später vergewaltigen und dann heiraten wollen. Fattah ist außerdem Geheimdienstagent, verantwortlich für viele totgeschlagene Mädchen im berüchtigten Evin-Gefängnis, in dem schließlich auch Schahrsad eingekerkert wird. Dorthin gebracht hat sie Mustafa, ein junger Mann und Wärter dort, der sie ebenfalls heiraten will. Mustafa glaubt, seine Geliebte im Evin-Gefängnis vor Fattah in Sicherheit zu bringen. Eine, von allen Seiten aus betrachtet, paradoxe Vorstellung.
In einer eindringlichen Szene beschreibt Cheheltan, wie Schahrsads Onkel, der vom Land in die Stadt kommt, zum Gefängnis fährt, um sich ein Bild von dem möglichen Bräutigam zu machen. Von Mustafa, denn dass Fattah, der Hymenoplastiker, ebenfalls an diesem Ort unvorstellbarer Gewalt ein und aus geht, weiß niemand in der Familie. Im Evin-Gefängnis sieht der Onkel, wie eine Gruppe von Mädchen mit verbundenen Augen über den Hof geführt, eine Gruppe von Jungen, ebenfalls mit Augenbinden, in einen Bus verfrachtet werden. Was geht hier vor, fragt er sich, und als Mustafa den Raum betritt, meint er, einen dieser Jungen mit verbundenen Augen vor sich zu haben, „als hätte dieser bemerkt, dass der Onkel sich tatsächlich um sie sorgte“. Als er anfängt zu weinen, beginnt Mustafa seinerseits, sich Sorgen zu machen. Sie kommen aus parallelen, unverbundenden Welten, ahnungslos der eine, ohne inneren Bezug zu den eigenen Taten der andere.
Hinter Barrikaden
Cheheltan pflegt einen überaus ironischen Ton, einerseits. Andererseits schreckt er nicht davor zurück, blutige Folter, grausame Morde zu schildern. Und manchmal verfällt er in eine Art Märchen-Singsang, in dem eine lange vergangene Tradition aufscheint, von der nur die gewaltsamsten Elemente noch lebendig sind. Dass er das in Iran nicht veröffentlichen kann, liegt auf der Hand.
Wenn man ihn trifft, fragt man sich: Wie vorsichtig muss Cheheltan sein? Zu Hause, hier? Kann man alles schreiben, was er erzählt? „Ja, sagt er, das können Sie.“ 1998, als sich die Lage für Künstler und Intellektuelle in Iran schon einmal extrem verdüsterte, als eine schwarze Liste mit den Namen von weit mehr als hundert verfemten Dichtern die Runde machte und wiederholt Künstler ermordet wurden, hat Cheheltan sich in seinem Haus verbarrikadiert und nahm im Frühjahr 1999 die Gelegenheit eines Stipendiums des Internationalen Schriftstellerverbandes an, für zwei Jahre nach Italien zu gehen.
Ashkan, der heute behauptet, noch nie Angst um seinen Vater gehabt zu haben, hat damals, so erzählt es seine Mutter, selbst in Italien jede Tür abgeschlossen, bevor die Familie zu Bett ging. Shahla Cheheltan, die aus einer Familie von Militärs kommt, die unter dem Schah kämpften, ist die Einzige, die offen sagt, dass sie Angst hat. Dass sie sich nicht erinnern kann, jemals ohne Angst um die gelebt zu haben, die sie liebt.
Stimme des Einzelnen
Cheheltan hat offenbar irgendwann einmal den Entschluss gefasst, sich nicht der Furcht um sein Leben auszuliefern. Aber er hat Angst um sein Land. Er sei kein sehr hoffnungsvoller Mensch, fügt er hinzu, und wenn man seinen Roman liest, der einem die Luft abschnürt, weil es nirgendwo einen Ausgang gibt aus dieser Welt der übereinanderlagernden Wirklichkeiten, Verstellungen und Kostümierungen, scheint Optimismus auch nicht angebracht. Ist nicht die junge Scharsad, über die von allen Seiten verfügt wird, bis sie in einem Massengrab liegt, die einzig Unschuldige in diesem Buch? „Oh nein“, sagt Cheheltan, „die anderen hatten nur keine Möglichkeit, bessere Menschen zu werden. Eingeschlossen in einem Kreislauf, in dem sie ganz unten anfangen, müssen sie der Gesellschaft dienen, die ihnen erlaubt hat, etwas zu werden, auch wenn das, was sie werden konnten, Folterer ist oder Agent.“
Die Möglichkeit, etwas anderes als Folterer oder Agent zu werden, dafür lohnt es sich schon zu kämpfen. Oder zu schreiben. Cheheltan ist nicht Teil einer organisierten Bewegung. Seine Freiheit ist es, ohne innere Zensur öffentlich zu sagen, was zu sagen ist, sich nicht zu verstecken, nicht zu verstummen. Er ist ein Einzelner, das ist die Wahl, die er getroffen hat.
Text: F.A.Z.
Bildmaterial: Matthias Lüdecke

Leseprobe  Biografie  Termine  Pressestimmen

Tageblatt Luxemburg Mai 2009 „BÜCHER“

Susanne Jaspers im Gespräch mit dem iranischen Schriftsteller Amir Hassan Cheheltan:
Literatur zwischen Liebe, Hass und Hoffnung

Der 1956 in Teheran geborene Amir Hassan Cheheltan gilt als einer der bedeutendsten Schriftsteller und Publizisten Irans. Neben zahlreichen Romanen veröffentlicht er regelmäßig Artikel zu iranischen Themen in internationalen Zeitungen, unter anderem in der Frankfurter Allgemeinen, der Süddeutschen und der New York Times. Im Juni wird Cheheltan auf Einladung des DAAD für ein Jahr nach Deutschland kommen, im selben Monat erscheint im Münchner P. Kirchheim Verlag die deutsche Übersetzung seines Romans „The Morals of the Inhabitants of Revolution Avenue“. Ein Gespräch mit dem Autor über das Schreiben in einem repressiven System, die Liebe zu seinem Land und seiner Sprache und die Hoffnung auf eine liberalere Zukunft im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen in Iran, die am 12. Juni 2009 stattfinden werden.

S.J.: Herr Cheheltan, auf Einladung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) werden Sie in Kürze den Iran verlassen, um ein Jahr in Berlin zu leben. Werden Sie Ihr Land und Ihre Heimatstadt Teheran vermissen?

A.C.: Meine Heimatstadt Teheran löst in mir zwei stark widersprüchliche Empfindungen aus: Liebe und Hass. Immer, wenn ich weit weg von Teheran bin, lässt der Hass nach und die Liebe überwiegt.

S.J.: In den vergangenen drei Jahrzehnten ist das Leben in Iran aufgrund einschneidender politischer Ereignisse und Veränderungen nicht ganz einfach gewesen. Wie haben das Ende des Schah-Regimes, die Islamische Revolution oder Ihre Zeit als Soldat im Iran-Irak-Krieg Ihr Schreiben beeinflusst?

A.C.: Jedes dieser Themen findet sich in meinem literarischen Schaffen wieder. Ich muss allerdings zugeben, dass der politische und gesellschaftliche Alltag in meinem Land sich in meiner Arbeit zwar stark, allerdings nicht direkt niederschlägt. Ohnehin wird jeder Aspekt des Lebens in Iran von der politischen Situation überschattet. Das mag vor allem daran liegen, dass die Regierung sich in jeden noch so privaten Lebensbereich einmischt. Sie mischt sich darin ein, was man liest, was man schreibt, was man isst, was man trinkt und sogar darin, was man denkt. Die islamische Regierung in Iran versucht, der Gesellschaft einen ganz bestimmten Lebensstil aufzuzwingen. Mit meinem Schreiben versuche ich meistens, gegen diese Zwänge anzukämpfen.

S.J.: Seit der Islamischen Revolution und dem Iran-Irak- Krieg sind Sie immer wieder mit feindlichen Kräften auch im eigenen Land konfrontiert worden. Ihre und die Bücher anderer kritischer Schriftsteller wurden zensiert, die Veröffentlichung verboten, es wurden sogar Morddrohungen gegen Sie ausgesprochen. Wie kann Literatur oder auch Kultur im Allgemeinen vor solch einem feindseligen und schwierigen Hintergrund gedeihen?

A.C.: Der Kampf um die Kultur und ihre Freiheit wird in der Tat momentan noch ausgefochten, beide Seiten empfinden diesen Kampf als eine Frage von Leben und Tod. Als Schriftsteller versuchen wir, diese Schlacht mit intellektuellen Mitteln zu schlagen, denn schließlich können wir Worte und Kreatitvät als Waffen benutzen. Die Waffen der Gegenseite hingegen heißen Hass und Gewalt. Darum ist das Ganze ein ziemlich unfairer Kampf. Doch unsere Kreativität hat eine ungemein wichtige Rechtfertigung: den Widerstand. Widerstand gegen die Zensur, Widerstand gegen Verbote und gegen Bedrohungen. Dieser Widerstand hat uns wertvolle Errungenschaften in der Kunst, der Sprache, der Literatur, in unserem Denken und vielen weiteren Bereichen gebracht. Was allerdings nichts daran ändert, dass unser oberstes Ziel als Schriftsteller und Künstler Frieden lautet.
S.J.: Haben Sie jemals darüber nachgedacht, Iran dauerhaft zu verlassen und ins Exil zu gehen?

A.C.: Aus freiem Willen, niemals! Iran ist nicht nur meine Heimat, sondern auch die Heimat meiner Sprache. Und die Sprache ist das Hauptwerkzeug des Schreibenden. Außerdem gibt es auf der ganzen Welt keinen anderen Ort, der mich so stark beeindruckt wie meine Heimatstadt Teheran.

S.J.: Ihr letztes Buch trägt den englischen Titel „Killing Americans in Teheran“ und setzt sich, ausgehend von einem historischen Mordfall, mit der erbitterten Feindschaft zwischen Iran und den Vereinigten Staaten auseinander. Was sind Ihrer Meinung nach die Hauptursachen für den Hass zwischen den beiden Ländern?

A.C.: Ganz einfach: Öl und die Nachbarschaft zur ehemaligen Sowjetunion! Lassen Sie es mich etwas genauer erklären: Die Iraner sind wütend auf die USA. Der Hauptgrund für diese Wut liegt im Staatsstreich gegen die Regierung von Dr. Mossadegh im Jahr 1953.* Dieser Staatsstreich hat die iranische Seele im Innersten verletzt. Doch wir sollten dies heute als geschichtliche Tatsache hinnehmen und in die Zukunft blicken, statt uns an die Vergangenheit zu klammern.

S.J.: Nach Jahren des Schweigens und der Drohungen sucht die neue US-Regierung unter Barack Obama nun wieder den diplomatischen Dialog mit Iran. Teheran signalisiert seinerseits unter gewissen Bedingungen Gesprächsbereitschaft Ist die politische Realität dabei, Thema und Titel Ihres letzten Buches einzuholen?

A.C.: Ich habe mich nie für das alltagspolitische Gebaren von Mächten und Regierungen interessiert. In meinen Romanen setze ich die politischen Ereignisse in einen historischen Kontext. Ich versuche, die Ursachen für die Probleme zu entdecken und zu begreifen, das Antlitz der Realität ungeschminkt zu zeigen. Mir ist bewusst, dass das eine sehr schwierige Aufgabe ist und ich bin mir nicht sicher, ob ich sie immer zufriedenstellend erfülle. Doch ich möchte auch betonen, dass das Politische in meinen Romanen stets im Hintergrund bleibt, das Hauptthema meiner Bücher ist immer der Mensch.

S.J.: Glauben Sie, dass eine eventuelle Deeskalation der aussenpolitischen Situation Irans auch Auswirkungen auf die Innenpolitik haben könnte? Etwa in Bezug auf die Rechte der Frauen oder, für Sie als Schriftsteller, auf die Meinungsfreiheit?

A.C.: Auf jeden Fall. Der Feind von außen liefert der Regierung unentwegt neue Entschuldigungen für neue Unterdrückung. Daher befürchte ich auch, dass sie, selbst wenn dieser Feind irgendwann gar nicht mehr existiert, einfach einen neuen hervorzaubern wird. Man kann durchaus behaupten, dass der Feind von außen ein geeignetes Mittel ist, den Iran zu regieren.

S.J.: Man sagt den Iranern nach, dass sie sehr gern über Politik diskutieren. Andererseits berichteten westliche Medien über eine starke Politikverdrossenheit im Vorfeld der letzten Präsidentschaftswahlen 2005 S.J.: Herr Cheheltan, auf Einladung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) werden Sie in Kürze den Iran verlassen, um ein Jahr in Berlin zu leben. Werden Sie Ihr Land und Ihre Heimatstadt Teheran vermissen?

A.C.: Meine Heimatstadt Teheranlöst in mir zwei stark widersprüchliche Empfindungen aus: Liebe und Hass. Immer, wenn ich weit weg von Teheran bin, lässt der Hass nach und die Liebe überwiegt.

S.J.: In den vergangenen drei Jahrzehnten ist das Leben in Iran aufgrund einschneidender politischer Ereignisse und Veränderungen nicht ganz einfach gewesen. Wie haben das Ende des Schah-Regimes, die Islamische Revolution oder Ihre Zeit als Soldat im Iran-Irak-Krieg Ihr Schreiben beeinflusst?

A.C.: Jedes dieser Themen findet sich in meinem literarischen Schaffen wieder. Ich muss allerdings zugeben, dass der politische und gesellschaftliche Alltag in meinem Land sich in meiner Arbeit zwar stark, allerdings nicht direkt niederschlägt. Ohnehin wird jeder Aspekt des Lebens in Iran von der politischen Situation überschattet. Das mag vor allem daran liegen, dass die Regierung sich in jeden noch so privaten Lebensbereich einmischt. Sie mischt sich darin ein, was man liest, was man schreibt, was man isst, was man trinkt und sogar darin, was man denkt. Die islamische Regierung in Iran versucht, der Gesellschaft einen ganz bestimmten Lebensstil aufzuzwingen. Mit meinem Schreiben versuche ich meistens, gegen diese Zwänge anzukämpfen.

S.J.: Seit der Islamischen Revolution und dem Iran-Irak- Krieg sind Sie immer wieder mit feindlichen Kräften auch im eigenen Land konfrontiert worden. Ihre und die Bücher anderer kritischer Schriftsteller wurden zensiert, die Veröffentlichung verboten, es wurden sogar Morddrohungen gegen Sie ausgesprochen. Wie kann Literatur oder auch Kultur im Allgemeinen vor solch einem feindseligen und schwierigen Hintergrund gedeihen?

A.C.: Der Kampf um die Kultur und ihre Freiheit wird in der Tat momentan noch ausgefochten, beide Seiten empfinden diesen Kampf als eine Frage von Leben und Tod. Als Schriftsteller versuchen wir, diese Schlacht mit intellektuellen Mitteln zu schlagen, denn schließlich können wir Worte und Kreatitvät als Waffen benutzen. Die Waffen der Gegenseite hingegen heißen Hass und Gewalt. Darum ist das Ganze ein ziemlich unfairer Kampf. Doch unsere Kreativität hat eine ungemein wichtige Rechtfertigung: den Widerstand. Widerstand gegen die Zensur, Widerstand gegen Verbote und gegen Bedrohungen. Dieser Widerstand hat uns wertvolle Errungenschaften in der Kunst, der Sprache, der Literatur, in unserem Denken und vielen weiteren Bereichen gebracht. Was allerdings nichts daran ändert, dass unser oberstes Ziel als Schriftsteller und Künstler Frieden lautet.

S.J.: Haben Sie jemals darüber nachgedacht, Iran dauerhaft zu verlassen und ins Exil zu gehen?

A.C.: Aus freiem Willen, niemals! Iran ist nicht nur meine Heimat, sondern auch die Heimat meiner Sprache. Und die Sprache ist das Hauptwerkzeug des Schreibenden. Außerdem gibt es auf der ganzen Welt keinen anderen Ort, der mich so stark beeindruckt wie meine Heimatstadt Teheran.

S.J.: Ihr letztes Buch trägt den englischen Titel „Killing Americans in Teheran“ und setzt sich, ausgehend von einem historischen Mordfall, mit der erbitterten Feindschaft zwischen Iran und den Vereinigten Staaten auseinander. Was sind Ihrer Meinung nach die Hauptursachen für den Hass zwischen den beiden Ländern?

A.C.: Ganz einfach: Öl und die Nachbarschaft zur ehemaligen Sowjetunion! Lassen Sie es mich etwas genauer erklären: Die Iraner sind wütend auf die USA. DerHauptgrund für diese Wut liegt im Staatsstreich gegen die Regierung von Dr. Mossadegh im Jahr 1953.* Dieser Staatsstreich hat die iranische Seele im Innersten verletzt. Doch wir sollten dies heute als geschichtliche Tatsache hinnehmen und in die Zukunft blicken, statt uns an die Vergangenheit zu klammern.

S.J.: Nach Jahren des Schweigens und der Drohungen sucht die neue US-Regierung unter Barack Obama nun wieder den diplomatischen Dialog mit Iran. Teheran signalisiert seinerseits unter gewissen Bedingungen Gesprächsbereitschaft. Ist die politische Realität dabei, Thema und Titel Ihres letzten Buches einzuholen?

A.C.: Ich habe mich nie für das alltagspolitische Gebaren von Mächten und Regierungen interessiert. In meinen Romanen setze ich die politischen Ereignisse in einen historischen Kontext. Ich versuche, die Ursachen für die Probleme zu entdecken und zu begreifen, das Antlitz der Realität ungeschminkt zu zeigen. Mir ist bewusst, dass das eine sehr schwierige Aufgabe ist und ich bin mir nicht sicher, ob ich sie immer zufriedenstellend erfülle. Doch ich möchte auch betonen, dass das Politische in meinen Romanen stets im Hintergrund bleibt, das Hauptthema meiner Bücher ist immer der Mensch.

S.J.: Glauben Sie, dass eine eventuelle Deeskalation der aussenpolitischen Situation Irans auch Auswirkungen auf die Innenpolitik haben könnte? Etwa in Bezug auf die Rechte der Frauen oder, für Sie als Schriftsteller, auf die Meinungsfreiheit?

A.C.: Auf jeden Fall. Der Feind von außen liefert der Regierung unentwegt neue Entschuldigungen für neue Unterdrückung. Daher befürchte ich auch, dass sie, selbst wenn dieser Feind irgendwann gar nicht mehr existiert, einfach einen neuen hervorzaubern wird. Man kann durchaus behaupten, dass der Feind von außen ein geeignetes Mittel ist, den Iran zu regieren.

S.J.: Man sagt den Iranern nach, dass sie sehr gern über Politik diskutieren. Andererseits berichteten westliche Medien über eine starke Politikverdrossenheit im Vorfeld der letzten Präsidentschaftswahlen 2005. Wie erleben Sie die politische Atmosphäre in Ihrem Land jetzt, wenige Wochen vor den nächsten Präsidentschaftswahlen am 12. Juni 2009?

A.C.: Bei den letzten Wahlen den reformistischen Kandidaten nicht zu unterstützen bzw. nicht zur Wahl zu gehen, war ebenfalls ein Akt der politischen Willensäußerung. Iran ist das Land der Wunder und Überraschungen. Niemand kann wissen, wer diesmal als Sieger aus den Wahlen hervorgeht, aber es ist klar, dass die meisten Kandidaten die Politik der verschiedenen Regierungen der letzten drei Jahrzehnte kritisieren oder sogar verurteilen. Auch wenn einige es vielleicht noch nicht ganz klar formulieren, kann man wohl sagen, dass die Politik der Islamischen Republik Iran in ihrer Gesamtheit von den meisten Kandidaten mißbilligt wird.

S.J.: Die Wahlen im Juni und die eventuellen Auswirkungen der Ergebnisse werden Sie aus dem fernen Berlin verfolgen. Ebenfalls im Juni erscheint im Münchner P. Kirchheim Verlag die deutsche Übersetzung Ihres Romans „The Morals of the Inhabitants of Revolution Avenue“. Worum geht es in diesem Buch und welche Bedeutung hat der Titel für Sie? Würden Sie sich manchmal eine weitere Revolution für den Iran wünschen?

A.C.: Eine Revolution ist genug für jede Nation auf dieser Erde. Sogar mehr als genug! Doch die während einer Revolution gemachten Erfahrungen sind schon deshalb nicht wertlos, weil man aus ihnen lernt, nie wieder eine Revolution zu machen. Statt an einer Revolution sollte man besser an einem Picknick teilnehmen. In meinem Roman geht es um das erste Jahrzehnt der Revolution. Ich habe versucht, meinen Landsleuten mit diesem Buch den Spiegel vorzuhalten und ihnen zu sagen: Schaut euch in diesem Spiegel an. Das seid ihr und das ist die Wirklichkeit, in der ihr lebt!

S.J.: Ihr Sohn studiert Architektur an der Universität von Teheran. Was wünschen Sie ihm für seine Zukunft?

A.C.: Ich wünsche ihm, dass er in seinem Leben wesentlich andere Erfahrungen macht, als ich sie machen musste.

Leseprobe  Biografie  Termine  Pressestimmen


Eine fragwürdige Ordnung
Amir Hassan Cheheltans Roman "Teheran Revolutionsstraße" ist im Kirchheim-Verlag erschienen.
SABINE ZAPLIN - SZ, 20.8.2009

Gauting - Fattah ist Arzt. In einem schmuddeligen, miefigen Krankenhaus in Teheran operiert er junge Mädchen, die ein Problem haben: Fattahs rotes, schwammiges Doppelkinn war mittlerweile in seinem Hemdkragen versunken. Aus den Augenwinkeln warf er einen Blick auf das Mädchen und knurrte: "Diese Huren! ... Ständig geben sie sich jedem erstbesten hin und dann fällt ihnen bei der Hochzeit ein, dass sie nur noch oberhalb des Bauchnabels Mädchen sind." Gehässigkeit lag in seinen Worten, und er blickte sich um, als wolle er ihre Wirkung auf seine Patientin und die Schwester prüfen.

Fattah stellt eine fragwürdige Ordnung wieder her: Er näht Jungfernhäutchen wieder zu. Allmählich arbeitet er sich zum Klinikchef empor, verliebt sich in eine seiner Patientinnen und erfährt am eigenen Leib die Konfrontation von echten Gefühlen mit falschen Ideologien. "Teheran Revolutionsstraße", heißt der Roman des iranischen Schriftstellers Amir Hassan Cheheltan, der soeben im Peter Kirchheim Verlag erscheint und ab sofort in den Buchhandlungen aufliegt. Es ist ein farbiges, erschütterndes Panorama der gegenwärtigen iranischen Gesellschaft, ihrer politischen, sozialen und wirtschaftlichen Zwänge und Verwerfungen. In Teheran durfte der Roman nicht erscheinen.

Verleger Peter Kirchheim entschied sich, das Buch in seiner deutschen Übersetzung von Susanne Baghestani in sein Verlagsprogramm aufzunehmen und ihm damit sein Ersterscheinen zu ermöglichen. Kirchheim interessierte an dem Roman neben seinen scharfsichtigen Analysen des Lebens in der Megacity Teheran auch die wunderbare, zuweilen poetische und in der arabischen Erzähltradition stehende Sprache.

Amir Hassan Cheheltan, geboren 1956 in Teheran, wo er noch heute lebt, ist den deutschen Lesern vor allem als Autor politischer Essays zur Lage im Iran bekannt. Er veröffentlicht seit fünf Jahren regelmäßig in der SZ. Während des Irakkriegs schrieb er an seinem ersten Roman, "Die Klage um Qassem", der erst 2002 unter strengen Auflagen erscheinen durfte. Immer wieder wurde er im Iran mit Publikationsverbot belegt, sodass er vor zwei Jahren die Nominierung seines letzten Romans "Iranische Morgenröte" für den staatlichen Buchpreis ablehnte, jedoch vergeblich. Insgesamt wurden bisher sechs Romane und fünf Erzählbände veröffentlicht. Im Herbst wird Cheheltan seinen neuen Roman in der Gautinger Buchhandlung Kirchheim vorstellen.

Leseprobe  Biografie  Termine  Pressestimmen

Seitenanfang


P. Kirchheim Gesamtprogramm Belletristik Poesie Sachbuch Gesundheit Datenschutz